Zum Mord an Sophia
Die persönliche Trauer und Verzweiflung der Familie und Freund*innen Sophias mag in ihrem Ausmaß für uns schwer nachempfindbar sein, und doch möchten wir an dieser Stelle zunächst unser tiefes Beileid und ehrliches Mitgefühl ausdrücken. Der Tod eines Menschen ist nicht wiedergutzumachen; er löst Entsetzen und Unverständnis aus. Trotzdem und gerade deshalb erscheint es uns wichtig, diese Tat in ihren gesellschaftlichen Kontext zu setzen, sie in ein System einzuordnen und nicht als schicksalhaften Zufall stehen zu lassen.
Dazu wollen wir einige Überlegungen zu den aufgekommenen öffentlichen Reaktionen formulieren und diese Reaktionen gesellschaftlich verorten. Anschließend ist es uns ein Anliegen, persönliche Gedanken zu unserem eigenen (Nicht-)Umgang mit diesem Fall im Spezifischen und derlei Verbrechen im Allgemeinen, unserem Unvermögen, auf dies zu reagieren, zu teilen.
Es ist in jedem Fall wichtig, die rassistische Vereinnahmung des Mordes an Sophia zu thematisieren. Trotzdem erscheint uns ein anderer Aspekt dann unterzugehen, wenn sich die öffentliche Debatte ausschließlich um die Herkunft der Täter dreht: das Thema Sexismus. Denn betrachtet man Statistiken zu Morden und anderen Gewalttaten, so erscheint die Debatte um deutsche und nicht-deutsche Täter gerade zu bizarr. So lässt sich zum Beispiel im medialen Diskurs um die Silvesternacht in Köln eine relative Überbetonung der vermeintlich nicht-deutschen Herkunft der Täter beobachten. Auch der Fall Sophia wurde unter diesem Aspekt beispielsweise in den Protesten in Chemnitz instrumentalisiert. Unter der Aufrechnung der vermeintlichen Herkunft der Täter gegeneinander gerät das Verhältnis von Männern und Frauen* als Täter*innen und Opfer aus dem Blick, obwohl dieses eine erschreckend eindeutige Struktur aufweist: das Geschlecht kann als konstantester Faktor in der Auswirkung von Gewaltkriminalität ausgemacht werden. Im Folgenden wollen wir also nachzeichnen, wie sich dies in dem konkreten Fall Sophias darstellte und festhalten: es gibt einen gesellschaftlichen Kontext dieses Verbrechens.
Sexismus und rape culture
In die breite mediale Aufmerksamkeit, die das Verschwinden Sophias hervorrief, mischten sich neben Anteilnahme und Erschütterung schnell und geradezu affekthaft noch weitere Haltungen: Unverständnis gegenüber Sophias Verhalten als Frau bis hin zu Schuldzuweisungen: “Wie kann man als Frau heute noch allein trampen […].”
Diese Form des victim blaming funktioniert als Täter-Opfer-Umkehr, indem sie die Unschuld der Betroffenen an dem Verbrechen anzweifelt, ihr eine Mitschuld zuweist und damit die Tat des Mannes – zumindest in Teilen- entschuldigt. Ausgedrückt hat sich dies in diesem Fall z.B. in Form von Online-Kommentaren, die zynisch nochmal darauf hinweisen mussten, dass man als Frau ja vielleicht auch nicht alleine trampen hätte müssen. Dass eine solche Tat voraussehbar gewesen sei…
Was vielleicht naiv als wohlgesonnener Hinweis gemeint ist, verschiebt tatsächlich jedoch den Fokus der Schuldfrage vom Täter hin zum Opfer. Es gibt keine, wirklich keine Rechtfertigung, keine Kleidung, kein Verhalten, keinen Ort, keine Uhrzeit, die die Tat eines Mörders relativieren könnten.
Deutlich wird, dass hier Verstehen und Verständnis auseinanderfallen. Es ist emotional nachvollziehbar, dass besorgte Eltern ihren Töchtern den Rat geben, doch lieber nicht bei Fremden mitzufahren. Und doch ist dieser Ratschlag ambivalent und nicht unproblematisch. Denn er wälzt die Verantwortung für die Verhinderung von sexualisierter Gewalt und Morden auf die potenziell Betroffenen ab, anstatt die Täter und ihre Schuld zu thematisieren und problematisieren.
Diese mediale Verhandlung des Verbrechens entlang stereotyper Rollenerwartungen (gemeint ist hier eine Haltung, nach der Sophia als Frau ihr Verhalten hätte anders gestalten sollen, z.B. nicht bei Fremden einsteigen) verweist darauf, dass die geschlechtliche Sozialisation ein Kern von Femiziden ist und, dass diese geschlechtlichen Stereotype ihre Entsprechung in der Realität finden. Frauen sind tatsächlich stärker bedroht von bestimmten Formen von Gewalt und Femizide sind der traurige Ausdruck einer patriarchalen Strukturierung der Gesellschaft.
Gleichzeitig stehen Frauenmorde in einem krassen Widerspruch zum vermeintlich zivilisierten, “gewaltfreien” Selbstverständnis westlicher Demokratien, was zu ihrer Tabuisierung beiträgt. Somit werden Femizide in der Öffentlichkeit lieber als “Beziehungstaten aus verzweifelter Liebe” verhandelt, als dass es eine Auseinandersetzung mit den strukturellen Hintergründen der vernichtenden Realität gäbe: Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen werden zu 87,9% von Männern begangen und Vergewaltigung und sexuelle Nötigung sogar zu 98,7%.
Das Private bleibt politisch
Bei der Beschäftigung mit dem Fall Sophia stoßen wir auf ein seltsames Unvermögen. Als Frauen – und damit potentiell immer von (sexualisierter) Gewalt Betroffene – erbringen wir tagtäglich eine Verdrängungsleistung. Sich der Gefahr ständig bewusst zu sein, der man als Frau auch in dieser Gesellschaft ausgesetzt ist, lähmt und verunmöglicht es, sich unbeschwert oder überhaupt sowohl im sogenannten Privaten als auch im öffentlichen Raum aufzuhalten. Diese lebensnotwendige Verdrängung ist kurzzeitig unmöglich, wenn man sich mit dem Mord an Sophia beschäftigt. Man ist plötzlich auf die eigene Verletzbarkeit und ständige Bedrohung/Brüchigkeit zurückgeworfen und wird sich der eigenen beschädigenden Verletzlichkeit bewusst. In diesem Moment entsteht ein Zwang zur Reflexion auf die Instabilität der eigenen Identität. Jedoch wird nicht nur das eigene Bild von sich, beispielsweise als unabhängige, starke Frau, hinterfragt. Zugleich wird die schlichte alltägliche Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ins Bewusstsein gehoben – und wir wären nicht weiblich sozialisiert, würden wir diese Leistung nicht auch für alle anderen Menschen um uns in Form von Sorgeleistungen erbringen.
Für uns soll der Fall Sophia ein Anlass sein, auf diese Anstrengung hinzuweisen, die wir Frauen tagtäglich unternehmen müssen. Wir sind es leid, uns tagtäglich einzureden zu müssen, dass wir unverwundbar seien.
Ändert die Umstände, die dies erzwingen!
Ein Text der Gruppe »the future is unwritten« – Leipzig, Januar 2019