{"id":2193,"date":"2015-05-07T15:41:53","date_gmt":"2015-05-07T14:41:53","guid":{"rendered":"http:\/\/www.unwritten-future.org\/?p=2193"},"modified":"2015-05-09T00:09:14","modified_gmt":"2015-05-08T23:09:14","slug":"die-parade-der-unsichtbaren","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.unwritten-future.org\/index.php\/die-parade-der-unsichtbaren\/","title":{"rendered":"Die Parade der Unsichtbaren"},"content":{"rendered":"
Zusammen mit Prisma, Stadt F\u00fcr Alle, F\u00fcr das Politische und nowhere Leipzig rufen wir zum 30. Mai auf gegen die neue urbane Ordnung auf die Stra\u00dfe zu gehen! F\u00fcr ein Recht auf Stadt f\u00fcr Alle.<\/p>\n
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Die Parade der Unsichtbaren.<\/strong><\/p>\n \u201eWir sind die Stadt\u201c, lautet eine der charmanten L\u00fcgen, die sich die hiesigen Marketingstrategen zur 1000-Jahres Feier von Leipzigs Ersterw\u00e4hnung zurechtgelegt haben. Im ganzen Jahr 2015 soll sich die st\u00e4dtische Bev\u00f6lkerung kr\u00e4ftig einschw\u00f6ren auf \u201eihr\u201c Leipzig. Der H\u00f6hepunkt der von einem Verein unter st\u00e4dtischem Vorstand organisierten Selbstbeweihr\u00e4ucherung: Ein kultischer Sternenmarsch am 30.05., an dem f\u00fcnf riesige L\u00f6wenskulpturen die Stadt Leipzig repr\u00e4sentierend durch die Stra\u00dfen ziehen sollen. Wirtschaft und Handel, Kunst und Kultur, Buch und Medien, Wissenschaft und Bildung, Sport und Umwelt \u2013 sie alle sollen sich am Ende des Sternenmarsches unter der gro\u00dfen G\u00f6ttin Lipsia verneigen. Neben solchen Allgemeinpl\u00e4tzen wartet die Erz\u00e4hlung zur gro\u00dfe Sause nat\u00fcrlich auch mit ihrer ganz Leipzig-spezifischen Deutung der Stadt auf. Erz\u00e4hlt wird die Geschichte der B\u00fcrger- und Heldenstadt. Erz\u00e4hlt wird eine Geschichte von kulturellen und wissenschaftlichen Genies, flei\u00dfigen Gesch\u00e4ftemachern und freiheitsliebenden B\u00fcrger*innen. Erz\u00e4hlt wird nicht zuletzt die Laier vom kreativen Hypezig, in dem noch Platz f\u00fcr Mensch und kulturelle Vielfalt ist. So willk\u00fcrlich, bem\u00fcht und eben doch provinziell solche Events immer wirken, k\u00f6nnten sie einem fast egal sein. W\u00e4re da nicht die Tatsache, dass sie aktiv daran mitgestalten, die Stadt als Marke und unseren Lebensraum als Zonen des Profits zu etablieren. W\u00e4re da nicht die Tatsache, dass diese ihre Erz\u00e4hlung der Stadt nicht unsere Erz\u00e4hlung ist: der Prek\u00e4ren, Verdr\u00e4ngten, Ausgeschlossenen, Ungewollten. Dass sie nicht die Erz\u00e4hlung der Gefl\u00fcchteten ist und nicht derjenigen Opfer eines rassistischen Dauerzustandes.<\/p>\n Leipzig: eine b\u00fcrgerliche Phantasie<\/strong><\/p>\n Nach au\u00dfen hin ist die Jubil\u00e4umsfeier nichts weiter als eine einj\u00e4hrige Werbeschleife. Wenn Leipzig sich als weltoffene Kulturmetropole und Wissensstandort inszeniert, passiert dies nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern um die Stadt fit zu machen f\u00fcr die besser-verdienende Mittelschicht. Die hiesigen Unternehmen freuen sich auf gut-ausgebildete Lohnarbeiter*innen und Konsumenten*innen mit dem n\u00f6tigen Kleingeld, die Immobilieninvestoren auf K\u00e4ufer*innen an den frisch entstandenen Eigentumswohnungen und Gated-Communities, die in den letzten Jahren vermehrt im Stadtbild zu sehen sind.<\/p>\n Selbstverwirklichung: Die Ideologie der neoliberalen Stadt<\/strong><\/p>\n Dabei ist die Art, wie f\u00fcr den st\u00e4dtischen Jubil\u00e4umszirkus geworben wird, paradigmatisch sowohl f\u00fcr die Anforderungen, die die Gesellschaft des Profits heute an ihre Mitglieder stellt, wie f\u00fcr die Ideologie, mit der jene diesen ihr Herrschaftsprojekt schmackhaft macht. Hinter Slogans wie \u201eWir sind die Stadt, wenn du dabei bist\u201c und \u201e1000 Jahre Leipzig sind 1000 Jahre Vielfalt\u201c verbirgt sich keine homogene Erz\u00e4hlung mehr, sondern die Vorstellung von der Stadt als bunter Mischung verschiedener Identit\u00e4ten, die ganz im Sinne des Diversity-Managements produktiv gemacht werden sollen f\u00fcr die Belange der Verwertung. Nicht umsonst werden im Marketingdiskurs die Motive von Verwegenheit und Pioniergeist ausgespielt: die ber\u00fchmte \u201eLeipziger Freiheit\u201c, die Stadt als wildes Abenteuer und Ort von Selbstverwirklichung, Leipzig als B\u00fcrgerstadt, die durch eigenverantwortliche Leistung und nicht durch Vorrecht ihren Status erworben hat. Es sind dies die Chiffren, die das neoliberale Real-M\u00e4rchen vom unternehmerischen Selbst bedienen. Sie sind sowohl attraktiv f\u00fcr den Lebensentwurf einer besser-verdienenden Mittelschicht, wie sie auch die Anforderungen enthalten, die f\u00fcr eine post-fordistische Stadt relevant sind. Selbstverwirklichung, Kreativit\u00e4t, Selbstmobilisierung und Selbstausbeutung \u2013 in der Medien- und Kreativwirtschaft und in der Wissensproduktion, die in Leipzig einen gro\u00dfen Teil der Wirtschaft stellen, sind dies relevante Faktoren f\u00fcr erfolgreiches Wirtschaften. Aber auch bei den wenigen fordistisch-industriellen Leuchtt\u00fcrmen wie Amazon oder Opel d\u00fcrften die Mitarbeiter*innen mit den Floskeln der eigenverantwortlichen Selbstverwirklichung bei Stange gehalten werden.<\/p>\n Aufwertung: Die Grenzen der Vielfalt<\/strong><\/p>\n Dabei ist klar, dass sich mit der Anrufung von Freiheit und Individualit\u00e4t zwar jede*r angesprochen f\u00fchlen soll, aber nur manche gemeint sind, denn an Diversit\u00e4t wird nur zugelassen, was f\u00fcr das Projekt der Stadt des Profits nutzbar gemacht werden kann. Mit der Vielfalt h\u00f6rt es dort auf, wo die st\u00e4dtische Marke bedroht ist. So funktioniert Ideologie state of the art: Schuld: Das Elend hat System<\/strong><\/p>\n Das kreative Milieu selbst tr\u00e4gt zwar keine Schuld an den Folgen der Aufwertung, sondern diejenigen, die dessen Leistungen als Image eines Viertels und Verkaufsargument privatisieren. Aber die Realit\u00e4t der Aufwertung ist selbstredend komplizierter, als hier die sch\u00f6pferische Unschuld und dort die Charaktermasken des Kapitals zu vermuten. Den verschiedenen Institutionen der Stadt kann man durchaus einen humanistischen Anspruch unterstellen, wenn sie Leipzig attraktiver hinsichtlich seiner Lebensqualit\u00e4t gestalten wollen. Nur ist dies nur um den Preis des menschenfreundlichen Zynismus zu haben. Wenn mit Stolz akklamiert wird, dass durch die Aufwertung des Leipziger S\u00fcdens politische Indolenz, Gewalt und Prekarit\u00e4t beseitigt wurden, dann wird eben verschwiegen, dass dies nicht durch die L\u00f6sung dieser sozialen Missst\u00e4nde besorgt wurde, sondern durch Verdr\u00e4ngung der urspr\u00fcnglichen \u201eProblem\u201c-Bev\u00f6lkerung. Verdr\u00e4ngung: Exodus der Anderen<\/strong><\/p>\n Eine Politik, die Leipzig zu einem begehrten Investitionsobjekt machen will, hat fatale Auswirkungen f\u00fcr die Bev\u00f6lkerung. Der steigende Wert von Immobilien schl\u00e4gt in steigende Mieten f\u00fcr Bewohner*innen nachgefragter Viertel um. Dass es in Leipzig in den letzten Jahren zu Mietsteigerungen kam, hat jede*r Bewohner*in am eigenen Leib sp\u00fcren k\u00f6nnen. Wie viele Wohnungen finden sich noch f\u00fcr 4,60 \u20ac\/qm \u2013 das ist der ALG II Freibetrag des Jobcenters \u2013 in den Vierteln, wo kulturelle und infrastrukturelle Teilhabe am st\u00e4dtischen Reichtum m\u00f6glich ist? Und wie viele werden es in Zukunft sein? Wer die h\u00f6heren Mieten nicht mehr zahlen kann, ist gezwungen, das Viertel zu verlassen, um Platz f\u00fcr eine einkommensst\u00e4rkere Bev\u00f6lkerung zu machen. Sie m\u00fcssen an den Stadtrand ziehen \u2013 bis die Gentrifizierung auch dort ankommt. Am Ende der Verdr\u00e4ngung steht die Obdachlosigkeit, dann wenn es keinen bezahlbaren Wohnraum mehr gibt. Allerdings sch\u00fctzt die Stadt auch den Leerstand mittlerweile vor den ungeliebten G\u00e4sten. Die Bewohner*innen, die sich die Mieten nicht mehr leisten k\u00f6nnen, sind die Armen \u2013 die Erwerbslosen, prek\u00e4r-Besch\u00e4ftigen, Aktivist*innen in alternativen Kulturprojekten, usw. Dieses andere Leipzig ist nicht aufgefordert worden sich unter der Stadtg\u00f6ttin Lipsia zu vereinen, sie werden von keiner der L\u00f6wenskulpturen repr\u00e4sentiert. Sie sind ausgeschlossen und unsichtbar. Sie sollen den L\u00f6wen h\u00f6chstens beim Br\u00fcllen und Stolzieren zusehen.<\/p>\n Widerstand: Wir sind die Stadt!<\/strong><\/p>\n Die Feier zu 1000 Jahren Leipzig wirft ein Schlaglicht auf das, was gemeint ist, wenn von Leipzig gesprochen wird. Die Nicht-Repr\u00e4sentanz der Unterpriviligierten ist Ausdruck einer politischen Praxis, die diese Unterpriviligierten produziert. Doch es ist nur unsere Stadt, wenn auch wir dabei sind. Dabei geht es uns um mehr, als nur unsere eigenen Lebensstile im urbanen Raum akzeptiert zu sehen. Es muss das Ziel einer Recht-auf-Stadt-Bewegung sein, den st\u00e4dtischen Reichtum den Bed\u00fcrfnissen der Menschen gem\u00e4\u00df verf\u00fcgbar zu machen. Die ganz andere Stadt bedeutet: Wir entscheiden zusammen \u00fcber die Umst\u00e4nde unseres Lebensumfelds \u2013 die Logik von Profitabilit\u00e4t und Verwertung hat keine Macht mehr dar\u00fcber. Keine Frage: unter den heutigen Verh\u00e4ltnissen der Stadt des Kapitals hat das den Klang von Utopie. Gleichwohl gibt es schon ganz gegenw\u00e4rtige Wege, die Bedingungen \u00fcber das eigene Wohnen und Leben in die eigene Hand zu nehmen: Mieter*innen machen Entmietungspraxen \u00f6ffentlich und organisieren sich gegen den Druck der Immobilienfirmen. Zwar ist dies noch ein unterrepr\u00e4sentiertes Ph\u00e4nomen in Leipzig, wird aber weiter notwendig werden, wenn sich F\u00e4lle wie in der Windm\u00fchlenstra\u00dfe, der Holbeinstra\u00dfe oder der Kantstra\u00dfe h\u00e4ufen. Auch die Nutzung des \u00f6ffentlichen Raums muss wieder politisiert werden, so wie es jetzt gerade mit dem Leopoldplatz in Connewitz geschieht. Und apropos Leopoldplatz: Eine Initiative fordert mittlerweile die Bebauung mit Unterk\u00fcnften f\u00fcr Asylsuchende. Auch das geht also. Das Recht auf Stadt mit dem Problem einer ausschlie\u00dfenden Asylpolitik verkn\u00fcpfen. F\u00fcr ein Recht auf Stadt f\u00fcr Alle!<\/p>\n Demonstration
\nFreiheit ja bitte, aber wenn es die \u201eChaoten\u201c in Connewitz oder der Eisenbahnstra\u00dfe zu weit treiben, dann sollen es doch Komplexkontrollen, Video\u00fcberwachung und der polizeiliche Dauer-Ausnahmezustand richten. Leipzig will nach au\u00dfen als sicher wirken und die \u201egef\u00e4hrlichste Stra\u00dfe\u201c der Republik befrieden, auch wenn dies zur Kriminalisierung linker Politgruppen und offenem Rassismus bei Polizeikontrollen f\u00fchrt. Auch mit der Weltoffenheit hat man es nur soweit, wie die Asylbewerber*innen der Torgauer Stra\u00dfe weiter in einer Massenunterkunft am Rande der Stadt das Wohlbefinden der Mitb\u00fcrger*innen nicht st\u00f6ren.
\nDank Leipziger Linie wurde trotz 10 % Leerstand seit den 90er Jahren keine Besetzung mehr geduldet. Der Status der Wagenpl\u00e4tze ist alle paar Jahre bedroht. Wozu auch all der Wildwuchs? Man hat ja das bunte Treiben an \u201eunserer Karli\u201c.
\nKlar sind alle die Stadt, wenn auch du dabei bist. Die Frage ist, wer kann dabei sein, wenn die Mieten in dieser Stadt mittlerweile schneller steigen, als das Realeinkommen w\u00e4chst?
\nUnd nat\u00fcrlich ist die Stadt selbst stolz auf ihre \u201ecreative class\u201c, die im \u201eDisneyland des Unperfekten\u201c haust und schafft. Doch mit dem Zugest\u00e4ndnis an W\u00e4chterh\u00e4user und Ladenprojekte ist Schluss, wenn die Kreativen ihren Dienst getan haben und die Viertel attraktiv sind. Zwar waren es die Bewohner*innen mit ihren sozialen Interaktionen und kreativen Aktionen, die Leipzig wertvoll und interessant gemacht haben. Aber die Immoblilienwirtschaft ist es, die unter Beihilfe der Stadt die Wertsteigerung \u00fcber die Mieten einf\u00e4hrt. In der S\u00fcdvorstadt oder Plagwitz h\u00e4ngt die steigende Nachfrage nach Wohnungen unmittelbar mit dem geschaffenen Kulturangebot zusammen. Jetzt wo die Mieten steigen, m\u00fcssen die Produzent*innen dieses immateriellen Reichtums an Kultur das Viertel verlassen. Die Karawane zieht weiter. Nach Lindenau oder Volkmarsdorf bis auch dort die Viertel dicht sind.<\/p>\n
\nUnd auch die Alternativen und Kreativen haben zuweilen ein Interesse am Zuzug neuer Bewohner*innen, damit sich die Gesch\u00e4fte im eigens er\u00f6ffneten Kulturbetrieb lohnen oder um sich einzurichten im eigenen kulturellen Milieu. Zwar zieht es die meist wei\u00dfen, studentischen Umz\u00fcgler gerne in Viertel, wo sich mitunter am Elend der Prek\u00e4ren sozialromantisch gelabt werden kann. Langfristig gesehen wird man aber unter seines gleichen bleiben, weil die alten Bewohner*innen wegziehen. Auch hier: kein Vorwurf, denn auch das ist der Irrsinn einer Gesellschaft, in der nur alle gegeneinander ihr Gl\u00fcck einfahren k\u00f6nnen. Keiner hat\u2019s gewollt, doch am Ende stehen alle vor dem Resultat einer Stadt, die brav getrennt ist zwischen arm und reich, \u201ewei\u00df\u201c und migrantisch, kultureller Avantgarde und Tristesse.
\nNat\u00fcrlich soll dies nicht bedeuten, dass es keine Akteure gibt, die ganz aktiv an der Umgestaltung der Stadt arbeiten und die es nicht zu markieren lohnen w\u00fcrde. Eben so wenig, dass keine politischen Spielr\u00e4ume existieren, die man einfordern k\u00f6nnte. Wer keinen Unterschied zwischen den Entmietungsschweinereien einer HSK-Immobilien und der Praxis alternativer Kulturakteur*innen kennt, kann auch nicht mehr unterscheiden, wer letztlich an den profit-orientierten Entwicklungen zu leiden hat und wer nicht.<\/p>\n
\nWenn wir am 30.05. auf die Stra\u00dfe gehen, wollen wir Resonanzraum sein f\u00fcr all diese praktischen Bewegungen, die der Filetierung des eigenen Lebensraum etwas entgegenzusetzen haben. Und nicht zuletzt wollen wir die offizielle Erz\u00e4hlung der Stadt Leipzig nicht unwidersprochen lassen, denn sie meint nicht uns. Lasst uns zusammen als unsere eigene Skulptur all jene sichtbar machen, die vom Recht auf Stadt ausgeschlossen sind: Ausgesperrte, Weggesperrte, Ungewollte, Anormale, Abgeschaffte.<\/p>\n
\n30.05.15 | 16 Uhr | Rabet\/ Eisenbahnstra\u00dfe<\/p>\n